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Streßreaktionen bei akuter und chronischer Lärmbelastung

Lärm wirkt als Streßfaktor und erhöht die Freisetzung verschiedener Streßhormone. In der Streßforschung werden zwei Situationen unterschieden: Bei Verlust der Kontrolle die Niederlagereaktion mit erhöhter Freisetzung von Cortisol aus der Nebennierenrinde, bei Bedrohung der Kontrolle die Kampf-/Fluchtreaktion mit erhöhter Freisetzung von Adrenalin aus dem Nebennierenmark [1].

Bei unterschiedlicher Lärmbelastung von wachen Personen können drei verschiedene Streßreaktionstypen unterschieden werden (Abb.1): Bei extremer Lärmbelastung (Pegel größer 120 dB(A)) Freisetzung von Cortisol aus der Nebennierenrinde, bei ungewohnter Lärmbelastung mit hohen Pegeln (etwa 100 dB(A)) Freisetzung von Adrenalin aus dem Nebennierenmark, bei gewohnter Lärmbelastung (zum Beispiel Arbeitslärm mit 100 dB(A)) Freisetzung von Noradrenalin aus den Synapsen des sympathischen Nervensystems [2].

Abb. 1: Das Lärm-Streß-Modell [2]: Reaktionsalternativen bei unterschiedlich intensiver Lärmbelastung und verschiedener Habituation an den Lärm

Sofern der Lärm Aktivitäten wie Konzentration oder Kommunikation stört, können auch wesentlich niedrigere Lärmpegel zu Streßreaktionen führen. So erhöhte zum Beispiel Straßenverkehrslärm mit einem Mittelungspegel von 60 dB(A) die Noradrenalinfreisetzung während einer Fortbildungsveranstaltung [3]. In Übereinstimmung mit dem theoretischen Wirkungsmodell indirekter Lärmwirkungen stehen die Streßhormonerhöhungen in einem engeren Zusammenhang mit den subjektiv erhobenen Lärmstörungen als mit den objektiv erhobenen Schallpegeln der verschiedenen Umweltlärmtypen (Abb.2).

Abb. 2: Schematische Darstellung direkter und indirekter Lärmwirkungen

Besonders wichtig ist, daß chronische Lärmbelastung zu keiner vollständigen Gewöhnung, sondern in vielen Fällen zu einer chronischen Erhöhung verschiedener Streßhormone führt. Während des Schlafs konnten bei noch geringeren Lärmpegeln akute Streßreaktionen nachgewiesen werden. Die Untersuchungen von Streßreaktionen während des Schlafs wurden in Zusammenarbeit des Instituts für Wasser-, Boden- und Lufthygiene des Umweltbundesamtes mit Herrn Dr. Maschke, Institut für Technische Akustik der Technischen Universität Berlin, durchgeführt.

In einer Felduntersuchung von Anwohnern des Flughafens Tegel in Berlin führte eine elektroakustische Simulation von Nachtfluglärm in den ersten zwei Versuchsnächten zu einer erhöhten Adrenalinausscheidung im Harn. In der dritten und vierten Versuchsnacht war dagegen Cortisol erhöht. Bereits 16 Überflugereignisse mit Maximalpegeln von 55 dB(A) (Mittelungspegel in der Nachtzeit etwa 30 dB(A)) bewirkten signifikante Streßhormonerhöhungen sowie eine deutliche Verschlechterung der subjektiven Schlafqualität [4]. Bei dieser Untersuchung blieb die Frage nach dem Einfluß der Gewöhnung an den Nachtfluglärm weitgehend offen.

Deshalb wurde im Rahmen der Studie "Verkehr und Gesundheit" des Berliner Senats die langfristig habituierte nächtliche Katecholamin-Ausscheidung von Personen in lauten und leisen Wohngegenden verglichen [5]. Beim Vergleich von Personengruppen mit Schlafzimmerfenstern an leisen bzw. lauten Straßen konnte eine chronische Erhöhung der Noradrenalinfreisetzung um 9% nachgewiesen werden. Bei dieser Untersuchung schliefen die Probanden bei ihrer jeweils gewohnten Fensterstellung, sammelten in einer Nacht den Harn und füllten am Morgen einen Fragebogen zu ihrem subjektiven Schlaferleben aus. Personen, die angaben, oft oder immer durch Straßenverkehr geweckt zu werden, hatten eine um 24% erhöhte Noradrenalinausscheidung im Vergleich zu ungestört schlafenden Personen [6].

In einem weiteren Teil dieser Studie wurde die Streßhormonausscheidung von Probanden bei Schallpegelerhöhung durch Öffnen von Schlafzimmerfenstern an lauten Straßen untersucht. Die Probanden waren seit mehreren Jahren dem nächtlichen Straßenverkehrslärm ausgesetzt. Durch das Fensteröffnen entstanden Pegelerhöhungen von 9 bis 18 dB, der mittlere Innenraumpegel bei geschlossenen Fenstern betrug etwa 30 bis 50 dB(A). Deshalb ist der Innenraumlärm bei geöffneten Fenstern als gewohnte Nachtlärmbelastung mit erhöhten Schallpegeln zu werten. Unter dieser akuten Pegelerhöhung wurde eine mittlere Erhöhung der Cortisolausscheidung um ein Drittel nachgewiesen [7]. Der nachträgliche Vergleich mit einer ruhig wohnenden Kontrollgruppe zeigte, daß die Noradrenalin- und Cortisolausscheidung der Verkehrslärmbelasteten auch bei geschlossenen Fenstern signifikant erhöht war (Abb.3).

Abb. 3: Verteilungen (Median, 25% und 75%-Werte sowie 5% und 95% Werte) der nächtlichen Ausscheidungsmengen von Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol bei 18 Personen aus ruhiger Wohngegend (je drei Nächte) und 25 Personen, die an lauten Straßen wohnten und je zwei Nächte lang mit geschlossenen bzw. geöffneten Fenstern schliefen.

Da die Lärmgruppe normalerweise mit geschlossenen Fenstern schlief, liegen hier Beispiele langfristiger Streßhormonerhöhung bei jahrelanger Nachtlärmbelastung vor. Wie oben erwähnt, stieg bei akuter Pegelerhöhung durch Fensteröffnung nur die Cortisolausscheidung weiter an.

Die Extrapolation der nächtlichen Ausscheidungsmengen auf 24 h (nach einem Vorschlag von Spreng [8]) erlaubte einen Vergleich mit dem Normbereich für die Cortisolausscheidung (20-100 µg/24h) und zeigte, daß bei geöffnetem Fenster an lauten Straßen sogar der Median der Cortisolausscheidungsmengen den Normbereich überschritt. Aus der medizinischen Literatur ist bekannt, daß zu den Folgen langzeitiger Cortisolwerte oberhalb des Normwerts u.a. Cholesterinerhöhungen, Arteriosklerose und Beeinträchtigungen des Immunsystems gehören [9].

Wegen der gesundheitlichen Bedeutung nachtlärmbedingter Cortisolerhöhungen wurden 16 Versuchspersonen 40 Nächte lang untersucht [10]. Nach drei Versuchsnächten ohne Lärm wurden in den Schlafzimmern über Lautsprecher pro Nacht 32 Fluglärmereignisse mit Lmax = 65 dB(A) simuliert. Anhand von Blutproben zu Beginn und am Ende des Versuchs wurden die Probanden in je eine Gruppe mit ausgeglichener Mg-Bilanz (n = 8) und mit Mg-Verlusten (n = 7) eingeteilt. Die prozentualen Normbereichsüberschreitungen von Cortisol sind in Abb. 4 dargestellt.

Abb. 4: Habituation von Cortisolreaktionen an langfristig wiederholte nächtliche Fluglärmbelastung. Dargestellt ist die zeitliche Entwicklung des Prozentsatzes von Versuchspersonennächten, bei denen der Normwert von Cortisol überschritten wurde [11].

Die Gruppe mit ausgeglichener Mg-Bilanz zeigt eine normale Habituation nach einer deutlichen Anfangsreaktion. In der Gruppe mit verringerten intrazellulären Mg-Werten (bei Versuchsbeginn oder während des Versuches) stiegen die Normwertüberschreitungen von Cortisol in den letzten 10 Nächten wieder stark an. Hier zeigt sich der Übergang zu chronischer Cortisolerhöhung.

In der Gruppe mit ausgeglichener Mg-Bilanz stiegen die Normbereichsüberschreitungen unter Nachtlärm zunächst auf das Vierfache an und normalisierten sich danach in etwa. Bei der Gruppe mit Mg-Verlusten war bereits der Ausgangswert erhöht, unter anderem vermutlich auch deswegen, weil ein Teil dieser Personen in verkehrslärmbelasteten Wohnungen lebte. Bei Nachtlärm stiegen die Normüberschreitungen auf mehr als 30% und fielen dann zunächst ab. In den letzten 10 Lärmnächten stiegen sie im Gegensatz zu der erstgenannten Gruppe jedoch erneut stark an (Abb.4).

Dieser Versuch zeigt, daß langfristige Nachtlärmexposition bei streßempfindlichen Menschen zu chronisch über den Normbereich erhöhten Cortisolwerten führen kann. In weiteren Studien muß untersucht werden, welcher Prozentsatz der lärmbelasteten Bevölkerung chronisch überhöhte Cortisolwerte aufweist.

Literatur

1. Henry, J.P.; Stephens, P.M.: Stress, health and social environment. Berlin, Springer 1977

2. Ising H., Rebentisch E., Babisch W., Curio I., Sharp D., Baumgärtner H.: Medically relevant effects of noise from military low-altitude flights. Results of an interdisciplinary pilot study. Envir. Int., Vol. 16 pp 411-423, 1990

3. Ising H.: Streßreaktionen und Gesundheitsrisiko bei Verkehrslärmbelastung. WaBoLu-Berichte 2/1983, Bundesgesundheitsamt, Berlin

4. Maschke, C.; Ising, H.; Arndt, D.: Nächtlicher Verkehrslärm und Gesundheit: Ergebnisse von Labor- und Feldstudien. Bundesgesundhbl. 4 (1995) 130-137

5. Fromme, H., Beyer, A.: Untersuchung "Verkehr und Gesundheit im Ballungsraum Berlin". Forschungsbericht. Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales Berlin, Berlin 1996.

6. Babisch, W., Fromme, H., Beyer A., "Katecholaminausscheidung im Nachturin bei Frauen aus unterschiedlich verkehrsbelasteten Wohngebieten. WaBoLu-Heft 9/1996, Umweltbundesamt, Berlin

7. Maschke C., Ising H., Hecht K.: Schlaf - nächtlicher Verkehrslärm - Streß - Gesundheit: Grundlagen und aktuelle Forschungsergebnisse. Teil II. Bundesgesundheitsblatt 3: 86-95, 1997.

8. Spreng M.: Verwaltungsrechtsstreit Flughafen HAHN. Gutacherliche Stellungnahme zur Frage 3a des Fragenkatalogs vom 31.5.1996, Erlangen 1996

9. Sapolsky, R.M., Krey, L. C., McEwen, B.S.: The neuroendocrinolgy of stress and aging: The glucocorticoid cascade hypothesis, Endocrinology Reviews 7, Number 3, S. 284-301, 1986

10. Harder J.: Untersuchung zum Verlauf von Streßreaktionen unter Einfluß von nächtlichem Fluglärm. Dissertationsentwurf, TU Berlin 1998

11. Ising H., Babisch W., Kruppa B.: Acute and chronic noise stress as cardiovascular risk factors. Nordic Noise/PAN 98. Stockholm (1998)


Dir. u. Prof. Dr. H. Ising, Fachgebiet Wohnungs-, Bau- und Siedlungshygiene, Umweltbundesamt, Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene
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