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Lärm und menschliche Gesundheit 


Hartmut Ising, Wolfgang Babisch, Barbara Kruppa


Lärmbedingter Stress und seine Langzeitfolgen

Es besteht allgemeine Übereinstimmung darin, daß Lärm als unspezifischer Streßfaktor wirkt und eine Freisetzung verschiedener Streßhormone auslöst. Das medizinische Streßkonzept geht auf Selye zurück und wurde unter anderem von Henry und Stephens zu einem psychophysiologischen Konzept erweitert, das direkt auf lärmbedingte Streßreaktionen angewendet werden kann. Grundsätzlich werden zwei Situationen unterschieden:

1.) Bei Bedrohung der Kontrolle über die Situatuon die Kampf-/Fluchtreaktion mit erhöhter Freisetzung von Adrenalin und Noradrenalin aus dem Nebennierenmark.
2.) Bei Verlust der Kontrolle die Niederlagereaktion mit erhöhter Freisetzung von Cortisol aus der Nebennierenrinde.

Entsprechend führen unterschiedlich starke bzw. ungewohnte oder gewohnte Lärmbelastungen bei wachen Personen zu verschiedenen Typen von Streßreaktionen:

1.) Bei hoher, ungewohnter Lärmbelastung mit Schallpegeln über 90 dB(A) eine erhöhte Freisetzung von Adrenalin und Noradrenalin aus dem Nebennierenmark.
2.) Bei gewohnter Lärmbelastung mit Pegeln über 90 dB(A) eine Freisetzung von Noradrenalin aus den Synapsen des sympathischen Nervensystems.
3.) Bei extremer Lärmbelastung mit Schallpegeln über 120 dB(A) eine erhöhte Freisetzung von Cortisol aus der Nebennierenrinde.

In der Streßforschung wurde ein wesentlicher Teil der Erkenntnisse durch Tierexperimente erarbeitet. Ebenso wurden von uns durch Lärm ausgelöste akute und chronische Streßhormonerhöhungen und deren Folgen in sorgfältig kontrollierten Tierexperimenten erforscht und deren Übertragbarkeit auf den Menschen experimentell abgesichert.

Sofern Lärm die einzige Belastung ist, sind Pegel über 90 dB(A) erforderlich, um die Adrenalin/Noradrenalinfreisetzung zu erhöhen. Bei Kombination von Lärm mit synergistisch wirkenden Belastungen (z.B. psychomentalen Belastungen, Kälte, Magnesiummangel) führen bereits geringere Lärmbelastungen zu deutlichen Streßhormonerhöhungen. In einem Experiment an Ratten wurde als Grundbelastung zwei Stufen von Magnesiummangel in der Nahrung angewendet und diese mit zwei Stufen von Lärmbelastung kombiniert. Beide Belastungen wirken synergistisch wie aus der erhöhten Noradrenalinausscheidung ersichtlich ist. Von den Langzeitfolgen der drei Monate langen Kombinatonsbelastung seien die Ca/Mg-Verschiebungen im Herzmuskel und die Verkürzung der Lebensdauer besonders hervorgehoben, die beide in der Mg-Mangel-Gruppe durch Lärm signifikant verstärkt wurden.

Die Bedeutung von Ca/Mg-Verschiebungen im Herzmuskel des Menschen wurde durch eine große Studie belegt, in der Herzproben von über 1200 Patienten analysiert worden waren, die an ischämischen Herzkrankheiten (IHK) bzw. an anderen Todesursachen verstorben waren. Die Ergebnisse zeigen einen Anstieg des Quotienten Ca/Mg mit dem Alter sowie eine Erhöhung dieses Quotienten bei den Infarkttoten gegenüber Unfalltoten. Der Quotient Ca/Mg kann also als Alterungsparameter betrachtet werden; demnach erscheint das Myokard der Herzinfarkttoten als biologisch vorgealtert.

Langfristige lärmbedingte Erhöhungen von Noradrenalin führen zu einer beschleunigten Alterung des Herzens, wobei Ca/Mg-Verschiebungen eine wesentliche Rolle spielen.

Sofern der Lärm Aktivitäten wie Konzentration oder Kommunikation stört, können wesentlich niedrigere Lärmpegel zu Streßreaktionen führen. So erhöhte zum Beispiel Straßenverkehrslärm mit einem Mittelungspegel von 60 dB(A) die Noradrenalinfreisetzung während einer Fortbildungsveranstaltung. Ganz besonders kritisch sind Störungen der Nachtruhe. Unser Gehör ist als Warnsystem ständig auf Empfang geschaltet, denn unser Schöpfer hat uns zwar mit Augenlidern, nicht aber mit “Ohrenlidern" ausgestattet. Deshalb können auch während des Schlafs lärmbedingte Streßreaktionen ablaufen.

Die Untersuchungen von Streßreaktionen während des Schlafs wurden in Zusammenarbeit des Instituts für Wasser-, Boden- und Lufthygiene des Umweltbundesamtes mit Herrn Dr. Maschke, Institut für Technische Akustik der Technischen Universität Berlin, durchgefuhrt. In einer Felduntersuchung von Anwohnern des Flughafens Tegel in Berlin führte eine elektroakustische Simulation von Nachtfluglärm in den ersten zwei Versuchsnächten zu einer erhöhten Adrenalinausscheidung im Harn. In der dritten und vierten Versuchsnacht war dagegen Cortisol erhöht. Bereits 16 Überflugereignisse mit Maximalpegeln von 55 dB(A) (Mittelungspegel in der Nachtzeit etwa 30 dB(A)) bewirkten signifikante Streßhormonerhöhungen sowie eine deutliche Verschlechterung der subjektiven Schlafqualität.

Bei dieser Untersuchung blieb die Frage nach dem Einfluß der Gewöhnung an den Nachtfluglärm weitgegehend offen. Deshalb wurde die Streßhormonausscheidung von Probanden bei Schallpegelerhöhung durch Öffnen von Schlafzimmerfenstern an lauten Straßen untersucht. Die Probanden waren seit mehreren Jahren dem nächtlichen Straßenverkehrslärm ausgesetzt. Die Pegelunterschiede durch das Fensteröffnen betrugen 9 bis 18 dB und der mittlere Innenraumpegel bei geschlossenen Fenstern etwa 30 bis 50 dB(A). Deshalb ist der Innenraumlärm mit geöffneten Fenstern als gewohnte Nachtlärmbelastung mit erhöhten Schallpegeln zu werten. Unter diesen Bedingungen wurde eine mittlere Erhöhung der Cortisolausscheidung um ein Drittel nachgewiesen.

Der nachträgliche Vergleich mit einer ruhig wohnenden Kontrollgruppe zeigte, daß die Cortisolausscheidung der Verkehrslärmbelasteten auch bei geschlossenem Fenster bzw. ohne zusätzlichen Nachtfluglärm signifikant erhöht war. Extrapolation der nächtlichen Ausscheidungsmengen auf 24 h erlaubte einen Vergleich mit dem Normbereich für die Cortisolausscheidung und zeigte, daß sogar einige Gruppenmittelwerte den Normbereich überschreiten. Aus der medizinischen Literatur ist bekannt, daß zu den Folgen langzeitiger Cortisolwerte oberhalb des Normwerts u.a. intrazelluläre Ca-Überladungen, Cholesterinerhöhungen, Arteriosklerose und Beeinträchtigungen des Immunsystems gehören.
Wegen der gesundheitlichen Bedeutung nachtlärmbedingter Cortisolerhöhungen wurden 16 Versuchspersonen 40 Nächte lang untersucht. Nach drei Versuchsnächten ohne Lärm wurden in den Schlafzimmern über Lautsprecher pro Nacht 32 Fluglärmereignisse mit Lmax = 65 dB(A) simuliert. Anhand von Blutproben zu Beginn und am Ende des Versuchs wurden die Probanden in je eine Gruppe mit ausgeglichener Mg-Bilanz (n = 8) und mit Mg-Verlusten (n = 7) eingeteilt. In der Gruppe mit ausgeglichener Mg-Bilanz stiegen die Normüberschreitungen unter Nachtlärm zunächst auf das Vierfache an und normalisierten sich danach in etwa. Bei der Gruppe mit Mg-Verlusten war bereits der Ausgangswert erhöht. Bei Nachtlärm stiegen die Normüberschreitungen auf mehr als 30% und fielen dann zunächst ab. In den letzten 10 Lärmnächten stiegen sie im Gegensatz zu der erstgenannten Gruppe jedoch erneut stark an.
Dieser Versuch zeigt, daß langfristige Nachtlärmexposition bei streßempfindlichen Menschen zu chronisch über den Normbereich erhöhten Cortisolwerten führen kann.

Im folgenden Teil wird anhand von epidemiologischen Studien untersucht, ob und ggf. in welchem Maße Lärm das Risiko für ischämische Herzkrankheiten und insbesondere für Herzinfarkt erhöht.

Epidemiologische Studien

Die Caerphilly-Speedwell-Studie
An zwei repräsentativen Kohorten von 2512 (Caerphilly) bzw. 2348 Männern (Speedwell) wurde der Zusammenhang zwischen dem Straßenverkehrslärmpegel vor der Wohnung und dem kardiovaskulären Risiko, der Prävalenz und der Inzidenz ischämischer Herzkrankheiten bei Männern im Alter von 45 bis 59 Jahren bei Studienbeginn untersucht. Das Design beider Kohortenstudien enthält sowohl Querschnitts- als auch Langzeitkomponenten. Sie folgen demselben Prozedere, so daß ein Zusammenfassen der Daten möglich ist. Die letzten 10-Jahres-Follow-up-Untersuchungen in Speedwell und Caerphilly sind kürzlich abgeschlossen worden.

Eine Infarktinzidenz wurde dann angenommen, wenn eines der folgenden Kritierien erfüllt war: Tod aufgrund einer ischämischen Herzerkrankung (ICD 410-414), klinischer Myokardinfarkt (vom Krankenhaus gemeldete Einlieferung aufgrund eines akuten Herzinfarkts, Code ICD 410) oder EKG-Infarkt (auffällige EKG-Veränderungen entsprechend Minnesota-Code). Um den Einfluß anderer Faktoren zu berücksichtigen, wurden die Kontrollvariablen Alter, Sozialstatus, Familienstand, Beschäftigungsstand, körperliche Aktivität am Arbeitsplatz und in der Freizeit, Rauchen, relatives Körpergewicht, Familienanamnese hinsichtlich Herzinfarkt und der Gesundheitsstatus hinsichtlich verschiedener häufiger chronischer Erkrankungen erhoben.

Bei Lärmpegeln unter Lm = 65 dB(A) wurden keine Zusammenhänge mit Risikofaktoren gefunden, die einem Dosis-Wirkungs-Kriterium entsprächen. Basierend auf den Risikofaktoren wurde aus den ersten Follow-up-Daten für die Männer der höchsten Lärmgruppe ein relatives Risiko von 1.1, d.h. ein 10%-Anstieg der Infarktinzidenz unter Verwendung eines logistischen Modells errechnet.

Der Anstieg der Inzidenzen der Herzinfarktinzidenzen in einer Periode von 5 bis 6 Jahren betrug 10% bei Bezug auf die Straßenlärmpegel an der Wohnadresse. Bei Berücksichtigung nur der Personen mit Fenstern zu lauten Straßen kam es zu einem Anstieg der Inzidenzen von 20%. Bei Einbeziehung des Fensteröffnungsverhaltens stiegen die Inzidenzen um 30%. Diese Ergebnisse waren nicht signifikant. Straßenverkehrslärmbedingte Störungen der häuslichen Erholung und der Nachtruhe hatten einen Inzidenzanstieg von 40% zur Folge.

Die Berliner Verkehrslärmstudie
Die in Berlin durchgeführte Verkehrslärmstudie war eine bevölkerungsbezogene Fall-Kontroll-Studie. Probanden waren Männer zwischen 31 und 70 Jahren. Über den Zeitraum eines Jahres wurden in 17 größeren Krankenhäusern des damaligen West-Berlin alle Überlebenden eines akuten Herzinfarkts erfaßt. In die Untersuchung einbezogen wurden 645 deutsche Infarktpatienten, die den Einschlußkriterien (ICD 410) genügten, seit mindestens 15 Jahren in Berlin lebten und einer Befragung zustimmten. Die Teilnahmequote betrug 91%. Etwa 10% aller überlebenden Infarktpatienten in Berlin, d.h. aller nicht letal verlaufenen Herzinfarktfälle auf Intensivstationen (Grundpopulation), konnten nicht identifiziert werden.

Die Studie war annähernd repräsentativ, d.h. das Kontrollkollektiv war eine 1%-Zufallsstichprobe von West- Berliner Männern, die aus dem Einwohnermelderegister gezogen wurden und die dieselbe Altersverteilung wie die Infarktpatienten hatten. Von den insgesamt erfaßten Männern nahmen 64% an einer schriftlichen Befragung teil, 3390 Männer genügten den Einschlußkriterien, d.h. für sie konnte die Verkehrslärmexposition der letzten 15 Jahre ermittelt werden. Zur Berücksichtigung von Wohnungswechseln wurde retrospektiv der Lärmpegel verschiedener Wohnadressen (gewichtet nach der Wohndauer) gemittelt, um einen mittleren Lärmexpositionsparameter für 15 Jahre zu erhalten. Daneben wurde auch die Untergruppe berücksichtigt, die während 15 Jahren nicht umgezogen war (etwa 60%). Zur Kontrolle möglicher Störvariablen wurden Alter, Sozialstatus, Arbeitsstatus, Rauchen, relatives Körpergewicht, Familienstatus, Schichtarbeit und Wohngegend (innere bzw. äußere Stadtbezirke) erfaßt.

In Berlin begann der verkehrsbedingte Anstieg der Herzinfarktinzidenzen bei mittleren Außenpegeln am Tage von Lm = 71-75 dB(A) mit 10% und erreichte 50% bei Lm = 76-80 dB(A). Diese Ergebnisse waren nicht signifikant. Bei Betrachtung lediglich der Personen ohne Wohnungswechsel innerhalb der vorangegangenen 15 Jahren ergab sich ein Anstieg der Inzidenz von 20% bei Lm = 71-75 dB(A) und von 70% bei Lm = 76-80 dB(A). Bei Kombination dieser beiden Lärmkategorien ergab sich ein Anstieg der Herzinfarktinzidenzen von 30% bei Straßenverkehrslärmpegeln (außen) von Lm>70 dB(A). Dieses Ergebnis war grenzwertig signifikant (p < 0,10).

Schlußfolgerungen

Die Ergebnisse einer systematischen Erforschung lärminduzierter Streßreaktionen sowie ihrer Langzeitwirkung, einer beschleunigten Alterung des Myokard, zusammen mit den Ergebnissen epidemiologischer Studien machen ein Umdenken in Bezug auf die Wirkungen von Umweltlärm notwendig:

Verkehrslärm belästigt nicht nur sondern erhöht gleichzeitig das Risiko für verschiedene Erkrankungen, was am Beispiel des Herzinfarkts bisher am besten belegt ist.

Aufgrund neuerer epidemiologischer Studien ist zu befürchten, daß Menschen, die an lauten Straßen mit Verkehrslärmmittelungspegeln von mehr als 65-70 dB(A) wohnen, ein etwa 20% höheres Herzinfarktrisiko haben als Menschen in leiseren Gebieten. Den dargestellten Studien mangelt es wegen zu geringer Fallzahlen in den Gruppen mit hoher Lärmexposition an ausreichender Teststärke. Daher sind die Ergebnisse statistisch nicht signifikant. Aber bereits jetzt bieten die Konsistenz und die Dosisabhängigkeit der vorliegenden Ergebnisse in Verbindung mit der grenzwertigen Signifikanz der Berliner Verkehrslärmstudie eine ausreichende Begründung für Verkehrslärmsanierung zur Vermeidung von Gesundheitsgefährdungen.

Bei einem Mittelungspegel von Lm = 65 dB(A) tags bzw. 55 dB(A) nachts scheint nach dem jetzigen Stand der epidemiologischen Forschung die Nachweisbarkeitsgrenze für eine Zunahme des Herzinfarktrisikos zu liegen. Wenn zunächst nur alle Gebiete mit Lm> 75 dB(A) saniert würden, wären bereits 1% weniger Herzinfarktfälle zu erwarten. Eine Herabsetzung der Sanierungsgrenze um je 5 dB(A) bis 65 dB(A) würde sich in weiteren Reduzierungen der Herzinfarktfälle um je 1% auszahlen, so daß bei Lärmsanierung aller Gebiete mit Mittelungspegeln von 65 dB(A) und mehr am Tage bzw. 55 dB(A) nachts 3% aller Herzinfarktfälle in Deutschland vermieden werden könnten.
 
 

Autorenadresse:
Prof. Dr. Hartmut Ising, Dr. Wolfgang Babisch, Barbara Kruppa
Umweltbundesamt, Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene,
Corrensplatz 1, 14195 Berlin